Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, liebe Freundinnen und Freunde des hl. Franziskus

Als mich Reinhard Bürger vor einigen Wochen anschrieb, ob ich nicht anlässlich des 50jährigen Jubiläums des St. Franziskus Gemeindezentrums, wo er 28 Jahre lang Pfarrer war, nach Dortmund-Scharnhorst kommen und zur Feier des Tages einen inhaltlichen Impuls beisteuern könnte, habe ich mich sehr gefreut und von Herzen gerne zugesagt. Uns verbindet über viele Jahre die Liebe zu Le Mans aber auch der Sensus und die Aufgeschlossenheit für moderne Tendenzen im Kirchbau. Das hat uns bereits zusammengeführt, als von seiner späteren Berufung nach Dortmund-Scharnhorst noch keine Rede war. Ich erinnere mich noch gut an eine gemeinsame Reise nach Le Mans mit Reinhard Marx, damals noch Rektor des Sozialinstituts Kommende in Dortmund, im Januar 1990, wo wir im Gemeindezentrum L’Etoile eine Ausstellung mit Fotografien von Kirchneubauten im Erzbistum Paderborn präsentieren konnten. Unvergessen die  inspirierenden Streitgespräche der beiden Namensvettern in Le Mans über Gott und die Welt!

Le Mans, Januar 1990, mit Reinhard Marx und Reinhard Bürger

Kommen wir aber nun zum Anlass unserer festlichen Zusammenkunft: Am 3. März 1974 – heute auf den Tag vor 50 Jahren – wurde das Franziskus-Zentrum, mit der Kirche und den Gemeinderäumen vom damaligen Kapitularvikar Weihbischof Dr. Johannes Joachim Degenhardt eingeweiht.

Die neue Dortmunder Großsiedlung Scharnhorst entstand ab 1965. Sie erhielt in den Jahren 1972/73 ein kirchliches Zentrum, das in architektonischer Abstimmung von beiden christlichen Konfessionen geplant wurde. In Verlängerung einer Geschäftszone entstand ein angehobener Platz, der vom evangelischen Shalom-zentrum und dem katholischen Franziskus Zentrum eingefasst wurde, erbaut nach Plänen der Dortmunder Architekten Hans-Ulrich Gastreich und Mechthild Gastreich-Moritz.

Gemeindezentren wie das St. Franziskus-zentrum in Scharnhorst waren vom Konzept her in den 70er Jahren absolut innovativ und Ausdruck des Reformwillens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Gemeinsames Kennzeichen des Bautyps ist die komplexe Verbindung unterschiedlicher Funktionen, die den Gottesdienst genauso betreffen wie die weiteren Bedürfnisse der Gemeinde. Von einer zentralen Kommunikationsfläche werden die unterschiedlichen Räume erschlossen.

Was wichtig ist: Das Franziskus-Zentrum verzichtet in seiner baulichen Gestalt auf jede Form von Triumphalismus, der noch bis in die 60er Jahre hinein die Kirchneubauten bestimmte. Das Oktogon des Altarraums setzt sich in der Höhe durch ein umlaufendes Fensterband akzentuiert gegenüber dem auf diesen bezogenen Gemeinderaum ab, ohne zu dominieren. Der Eingang ist nicht durch ein Portal überhöht und betont. Das Foyer erschließt zugleich den Gastraum und weitere Funktionsräume der Gemeinde.

Die neue Bescheidenheit – Verzicht auf Türme, Portale, Fassaden – wird hier kompensiert durch die zentrale Lage im städtischen Gefüge. Die Planung der Architekten gruppierten zudem die Kirchen beider Konfessionen an dieselbe Stelle im Siedlungsgefüge.

Die Entwicklung der Franziskus-Gemeinde ist eine wirkliche Erfolgsgeschichte, man lese nur die Chronik der Gemeinde, allerdings leider eine einsame Erfolgsgeschichte im Erzbistum, insbesondere wenn man auf die ebenfalls in den 70er Jahren gebauten ökumenischen Gemeindezentren in Meschede und Hagen-Helfe schaut. Meschede ist inzwischen geschlossen und verkauft, Hagen-Helfe auf katholischer Seite eher bescheiden und rückläufig.

Auch der Bautypus Kirchenzentrum, obschon er im Erzbistum Paderborn zu anspruchsvollen Lösungen führte, hat sich in der Folge nicht durchsetzen können und ist Episode geblieben.

Die Hoffnung, in der Breite die Anonymität der Großpfarreien mit ihren organisatorisch wie baulich oft hierarchischen Strukturen durch ein persönliches Miteinander der Gemeindemitglieder abzulösen hat sich in den Folgejahren nicht erfüllt. Dafür wurden im Rückblick vom damaligen Diözesanbaumeister Josef Rüenauver das Fehlen einer gültigen, eindeutig zu identifizierenden Gestalt und die mangelnde Eindeutigkeit verantwortlich gemacht.

Heute nach 50 Jahren unter völlig veränderten Vorzeichen ist das Konzept des Gemeindezentrums eigentlich wieder hoch aktuell. Die Offenheit der Architektur, die den Kirchenraum respektiert, dazu aber eine große Variabilität der Räume erlaubt, bietet große Chancen für kleine Gruppen und eine individuell zugeschnittene Pastoral, die nicht mehr allein den sonntäglichen Gemeindegottesdienst im Focus sieht.

Schauen wir auf die Anfänge des katholischen Gemeinde-Lebens in Scharnhorst zurück, die weiter zurückreichen als es das Jubiläumsdatum vorgibt. Ostern 1968 ziehen drei Franziskaner in eine Mietwohnung in der Stresemannstraße. Der erste Gottesdienst findet mit acht Personen in einer Schule statt. Im Dezember1968 schenken Diözese und Bonifatiuswerk der Gemeinde einen Pavillon, der ab sofort das Zentrum der Gemeinde ist. Es sind Franziskaner-Patres, die unter einfachsten Bedingungen in Scharnhorst wirkten und den Grundstein der künftigen Gemeinde legten. Hier ist damals wie heute der Geist franziskanisch geprägter Spiritualität lebendig.

Krisenzeiten, die wir heute erleben, verlangen nach Orientierung. Dabei erhält die Frage nach „maßgebenden Menschen“ (Karl Jaspers) wieder Gewicht. Der hl. Franziskus (1181/82 – 1226) mit seiner bereits die Zeitgenossen verstörenden „Karriere nach unten“ ist heute als Orientierungsgröße höchst aktuell. Kein Heiliger kommt ihm an Popularität gleich. Er taugt als christlicher Radikaler und Öko-Apostel für den Paradigmenwechsel in der Politik ebenso wie als Kirchenkritiker und religiöser Vordenker einer neuen Innerlichkeit, die den Weg aus der viel beschworenen Kirchenkrise weisen will. In seiner konsequent gelebten Christus-Nachfolge ist er zum Begründer einer großen weltumspannenden Bewegung geworden.

In der Heiligengestalt des poverello aus Assisi verbinden sich die zeitübergreifend gültigen Ideale der demütigen Nachfolge Christi, der freiwilligen Besitzlosigkeit und Friedfertigkeit, der liebenden Fürsorge gegenüber den Armen und Kranken und des verantwortungsvollen Umgangs mit der Schöpfung. Durch Jahrhunderte hindurch inspirierte er Menschen, die nach religiös-spiritueller Neuausrichtung ihres Lebens strebten und hat darin auch heute nichts von seiner Faszination verloren. Mit seiner radikalen Lebenswende steht er wie ein idealer Fixstern auch am Himmel all jener, die wie Simone Weil (1909-1943) dem „Wagnis des Unbedingten“ in ihren Gesellschaftsentwürfen Gestalt zu geben versuchten. Unter den nach dem Anruf Jesu Christi erwählten Leitmotiven der Demut und des Gehorsams, der Friedfertigkeit und der Keuschheit war insbesondere die der gelobten Armut die am heftigsten diskutierte und in der Ordensgeschichte durch die Jahrhunderte umstrittenste.

Heute in Zeiten des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und des Krieges im Heiligen Land und eines Wirtschaftens, das die Lebensquellen der Erde zu erschöpfen und zu vernichten droht, ist der mahnende Anruf des poverello von brennender Aktualität.. Mutig hat er sich 1219, inmitten des Fünften Kreuzzuges, auf eine Friedensmission ins Heerlager des Sultans al-Malik al-Kamil in Damiette begeben. Es war der erste interreligiöse Dialog zwischen Christen und Muslimen. Diese Begegnung vor mehr als 800 Jahren stellt uns die Bedeutung des Dialogs zur Konfliktbewältigung unmittelbar vor Augen. Unter seinen Begleitern tritt besonders die hl. Klara (1193/94 – 1253) hervor. Vielleicht noch stärker als Franziskus verfolgte sie das Ziel der evangelischen Armut und des kontemplativen Lebens in der Stille der Klausur.

Franziskus ist aber nicht nur „ein hochaktueller Bußrufer der Gegenwart“ er ist auch ein hoch aktueller religiöser Vordenker, der wie es Jürgen Springer formulierte, gemäß den Vorstellungen, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sein werde, uns gerade in schwierigen Zeiten eine Ermutigung sein kann. Bußrufer und Vordenker – das Bild bliebe unvollständig, wenn man ihn nicht auch als Künstler in den Blick nähme, der die Welt als Gottes Schöpfung in all ihren Phänomen geliebt und sie mit offenen Sinnen erlebt hat. Sein berühmter „Sonnengesang“, im Winter 1224/25 verfasst, ist eines der ersten Gedichte in altitalienischer Sprache. In allem was er tat, war er wahrhaftig – kein Mann des „Als-ob“. Ganz schlicht praktizierte er das, von dem er überzeugt war: die Nachfolge Jesu Christi ohne Wenn und Aber! Darin liegt das enorme Potential dieses unwahrscheinlichen, gerade für unsere Zeit maßgeblichen Heiligen und seiner befreienden Spiritualität.

Ihm haben wir im Jahr 2012 in Paderborn unter dem Titel „Franziskus –Licht aus Assisi“ im Diözesanmuseum Paderborn eine große Ausstellung gewidmet. Am Schluss der Ausstellung war dem Sitz franziskanischer Spiritualität im Leben eine filmische Installation gewidmet, die von dem belgischen Konzeptkünstler und Kalligraphen Brody Neuenschwander beigesteuert wurde.

Franziskus – Licht aus Assisi ; Ausstellung im Diözesanmuseum Paderborn 2012

Hier waren Mitglieder der Ordensfamilie im Interview zu erleben, die von ihrer Sicht des Heiligen und ihrem persönlichen Berufungsweg erzählten. Ihnen wurden folgende Fragen gestellt: Wer war Franz von Assisi? Gibt es noch (heilige) Armut in Europa? Wie fanden Sie Ihren Weg nach Assisi? Kann die wankende Kirche noch von franziskanischen Schultern getragen werden? Welches Lied singen Ihnen die Vögel? Vielfältig inspirierend und durch das eigene Lebensbeispiel stets überzeugend fielen die Antworten aus. Derart unmittelbar ins Hier und Jetzt überführt, blieb viel Raum für Besinnung und Nachdenklichkeit.

Schöpfungsverantwortung und Menschenfreundlichkeit im Geist des hl. Franziskus werden auch hier gelebt, spielen im Gemeindeleben in Dortmund-Scharnhorst vom Weihetag vor 50 Jahren an bis heute eine entscheidende Rolle.

Dass dieses so bleibt und sich immer wieder wandelnd auch unter neuer Leitung so vital weiter entwickeln möge, ist mein Wunsch zum Schluss. Allen Unkenrufen zum Trotz halte ich das damals so mutig realisierte Konzept des Gemeindezentrums mit seiner Offenheit und Freiheit gerade unter den heutigen Bedingungen einer sich gegen alle Schwierigkeiten neu erfindenden solidarischen Kirche auf dem Weg der Synodalität nicht nur für zeitgemäss, sondern für ausgesprochen zukunftsfähig. Also, liebe Freundinnen und Freunde des hl. Franziskus, machen wir uns gemeinsam auf den Weg! In diesem Sinne: „Pax et Bonum“ und „Ad multos annos“!

Prof. Dr. Christoph Stiegemann